UND IMMER FLIEßT DER RHEIN
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Ausblick auf das Alpenrheintal vom Hohen Kasten Quelle: Alamy |
Vor vielen Jahren, im Sommer 1990, arbeitete ich im EFTA-Sekretariat in Genf und hatte gerade eine umfassende Studie über die Kapitalverkehrsbestimmungen der EFTA-Länder abgeschlossen. Also dachte ich, ich hätte mir einen kleinen Urlaub verdient. Gesagt, getan! Ich kaufte mir bei der Raifa (Schweizerische Raiffeisenkasse) ein Wanderpaket und machte mich auf zu einer viertägigen Wanderung im Kanton Appenzell Innerrhoden. Am letzten Tag der Wanderung fuhr ich mit dem Lift auf den Hohen Kasten und stieg dann langsam über den scharfen Grat dieses Berges ab, bevor ich nach Brülisau zurückspazierte.
Damals hatte ich nur eine vage Vorstellung von der Geographie und der Geschichte der Grenzregion zwischen der Schweiz und Österreich. Der Ausflug hat mir jedoch die Wunder dieser Landschaft deutlich vor Augen geführt. Nach einer etwa zweistündigen Wanderung entlang des Grates stieß ich auf einen ziemlich steilen Absturz (die Saxer Lücke) mit einem hoch aufragenden Berg direkt gegenüber.
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Abstieg zur Saxerlücke Quelle: Alamy |
Als ich mich der Bresche näherte, eröffnete sich mir plötzlich ein freier Blick auf ein immenses Tal im Osten, das in der Mittagshitze flimmerte. Darin schlängelte sich ein blaues Flussband träge nach Norden zu einem fernen großen See. Auf der anderen Seite des Tals konnte ich eine Reihe von schroffen Gipfeln bewundern, die mit weißen Wolkenflecken betupft waren. Alles in allem ein bezaubernder Anblick! Es war nichts anderes als der nördliche Ausläufer des Alpenrheintals und gegenüber die Hügel und Berge Vorarlbergs, des östlichsten Bundeslandes Österreichs.
Im Nachhinein weiß ich diese Erinnerung besser zu schätzen. Betrachtet man das Titelbild genauer, so sieht man, wie der Rhein im Norden einen Bogen macht, während rechts das Vorgebirge den Strom einzuengen beginnt. Dort liegt die Herrschaft Hohenems, wo die Emser den Höhepunkt ihrer Macht erreichten. Spuren der Familie finden sich jedoch im gesamten Alpenrheintal, das damit zum Hauptschauplatz der Emser-Geschichte wird.
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Die römischen Militärkolonien in Raetia Prima et Secunda Titelblatt und Seite aus Notitia Dignitatum, Kopie (1436) des Originals von ca. 400 n.Chr. Quelle: Bodeleian Library MS. Canon. Misc. 378 |
Machen wir kurz eine kleine Reise in die Vergangenheit. In der Römerzeit, seit der Herrschaft des Kaisers Diokletianus, bildete der Alpenrhein die Provinz Raetia Prima, die sich vom Bodensee bis zu den Rheinquellen im Süden und weiter bis zu den Gebirgspässen nach Norditalien erstreckte. Hauptstadt war Curia Raetorum (Chur) im heutigen Graubünden. Die geographische Lage der Raetia Prima muss als "weder hier noch dort" beschrieben werden. Sie gehörte nicht zum italienischen Kernland, da sie durch den Alpenrücken der Adula (Wasserscheide zwischen Rhein und Po) von diesem getrennt und nur durch die Pässe Splügen und San Bernardino verbunden war. Sie war auch keine Grenzprovinz, da im Norden die Provinz Raetia Secunda lag, mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum (Augsburg) an der Donau
Die Verwaltung der Raetia Prima war, wie in den meisten römischen Provinzen dieser Zeit, weitgehend dezentralisiert und beruhte weitgehend auf Zusammenarbeit zwischen dem Praeses (dem vom Kaiser ernannten Statthalter) und einem Netz von meist einheimischen, aber romanisierten Grundbesitzern. Als die Zentralgewalt in der Zeit der Völkerwanderung geschwächt wurde und schließlich zusammenbrach, funktionierte dieses System weiter; die Bevölkerung blieb latinisiert, die Provinzgerichte übten weiterhin das römische Recht aus, und der in Chur residierende Bischof übernahm allmählich die Rolle des Statthalters.
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Theoderich der Große, König der Ostgoten Quelle: Sammlung des Francesco Gnechi, Palazzo Massino, Rom |
Durch eine Laune der Geschichte blieb Raetia Prima von den großen Umwälzungen der Völkerwanderung weitgehend verschont. Als Odoaker 476 n. Chr. den letzten römischen Kaiser als Herrscher Italiens ablöste, betrachtete er die Provinz als Teil seines Reiches. Sein Nachfolger, der Ostgotenkönig Theoderich der Große, zog die Grenze Italiens auch formell entlang des Bodensees. Er erlaubte zwar Gruppen von Alemannen, die vor einem Krieg mit den Franken flohen, einzuwandern, beschränkte ihre Ansiedlung aber auf ein kleines Gebiet mit der Südgrenze knapp südlich des heutigen Hohenems. Dadurch wurde der Einfluss germanischer Stämme am Alpenrhein eingedämmt, was zum Schutz der überwiegend römischen Zivilisation in der Region beitrug. Als das Oströmische Reich etwa 50 Jahre später Italien eroberte, übernahmen die Franken die Kontrolle über die Raetia Prima und verhinderten so eine möglicherweise verheerende byzantinische Eroberung.
Nachdem sich die Franken als Vormacht in der Region etabliert hatten, verzichteten auch die Langobarden bei ihren späteren Vorstößen von Osten her darauf, in die alpinen Rheintäler vorzudringen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die Eroberung der italienischen Halbinsel. Insgesamt blieb die römische Zivilisation in der Raetia Prima nach dem Untergang des Weströmischen Reiches noch fast 400 Jahre erhalten. Die fränkischen Herrscher übernahmen erst allmählich die Kontrolle über das Gebiet, während die Alemannen von Norden her eher friedlich einwanderten. Noch heute spricht ein Drittel der Bevölkerung im Süden des Alpenrheins (im Schweizer Kanton Graubünden) eine Version des Vulgärlateins, das seit der Ankunft der Römer im Jahr 15 v. Chr. in der Region verbreitet ist.
Die fränkische Herrschaft in der Region war anfangs eher milde. Raetia Prima, die zunehmend als Raetia Curiensis bezeichnet wurde, lag weit entfernt vom fränkischen Kernland, und die Verwaltung bestand im Wesentlichen darin, einen einheimischen Bischof als Statthalter zu benützen. Dieser verwaltete das Gebiet zusammen mit einem kleinen fränkischen Militärkontingent, das in dem weitläufigen Gebiet kaum in Erscheinung trat. Gegen Ende dieser Periode, im Jahre 765, taucht übrigens der Familienname Ems in seiner rätoromanischen Form "Amedes" erstmals in einer bischöflichen Urkunde auf, zusammen mit einer kleinen Siedlung gleichen Namens am Rhein südlich von Chur, die noch heute Ems heißt.
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Raetia Curiensis um 800. In früheren Jahrhunderten rerstreckte sich die Provinz bis zum Bodensee Quelle: Wikipedia |
Die Situation änderte sich, als die Karolinger die merowingischen Könige ablösten. In dieser Zeit erlosch auch die so genannte viktoridische Dynastie, die über ein Jahrhundert lang die Raetia Curiensis als Bischof und weltliches Oberhaupt verwaltet hatte. In Folge beendete Karl der Große die kirchliche Herrschaft. Im Jahre 807 belehnte er einen fränkischen Adeligen, Hunfried I., als Comes Curiensis, d.h. als Lehnsherrn des Gebietes, der dem Kaiser eher als Gott die Treue schwor. Die Hunfriedinger regierten mit Unterbrechungen über hundert Jahre lang als Grafen, bis Burchard II. Hunfrieding im Jahre 917 den Titel eines Herzogs von Alemannien beanspruchte und die Raetia Curiensis mit der wesentlich größeren ehemaligen Provinz Raetia Secunda im Norden vereinigen konnte. Eine seiner Residenzen errichtete er in Vinomna (Rankweil, bei Feldkirch). In einer Schenkungsurkunde des Klosters Pfäfers wird dann 920 wieder ein Ems als einer der Richter am rätoromanischen Gericht in Vinomna erwähnt.
Kurz darauf wurde das zusammengefügte Rätien in Herzogtum Schwaben umbenannt und erschien neben Bayern, Franken, Lothringen und Sachsen als eines der fünf Stammherzogtümer. Nach dem Zusammenbruch der karolingischen Herrschaft umfasste das nachfolgende deutsche Reich diese Herzogtümer. Seine Blütezeit erlebte Schwaben unter den Stauferherzogen, die von 1138 bis 1254 zu Königen von Deutschland und Kaisern des Heiligen Römischen Reiches aufstiegen. In dieser Zeit war das Herzogtum zweifellos die reichste Provinz Deutschlands, die den Herrschern die notwendigen Ressourcen und Einkünfte zur Erlangung und Erhaltung der kaiserlichen Macht verschaffte.
Der südliche Teil des Herzogtums war für die Kaiser wegen des Alpenrheintals als Verbindung nach Italien von besonderem Interesse. Um diesen Weg zu sichern, wurden in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts mehrere Befestigungen entlang des Rheins errichtet. Dazu gehörte auch die mächtige Festung Hohenems am unteren Alpenrhein, wo die Emser als Ministeriale eingesetzt wurden, um das Gebiet im Auftrag der Herrscher zu verwalten. Die ersten bezeugten Emser aus Hohenems sind Rudolf und Godwin von Ems, die um 1170 urkundlich erwähnt werden.
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Das Stammherzogtum Schwaben (in gelb) 917 Quelle: Wikipedia |
Die Bedeutung Schwabens endete abrupt mit dem Ende der staufischen Macht. Nach dem Aussterben dieser Dynastie war das Herzogtum ohne Herrscher und die rätischen Lehen blieben in der Schwebe. Rudolf von Habsburg, der Nachfolger des letzten Stauferkönigs, versuchte vergeblich, das Herzogtum für seine Nachkommen wiederzubeleben. Doch die deutschen Fürsten waren es leid, ihren Herrscher mit schwäbischem Reichtum zu versorgen. Stattdessen versuchte Rudolf, sich eine neue Machtbasis zu schaffen, indem er den grossen Städten des ehemaligen Herzogtums die Reichsunmittelbarkeit verlieh, was bedeutete, dass sie direkt dem König als Lehensherr unterstanden. Zudem versuchten die Habsburger, Gebiete in der Nähe ihrer Hauptherrschaften im Aargau unter ihre Kontrolle zu bringen.
Insgesamt führte das Fehlen eines Herzogs in Schwaben zu einem allgemeinen Konkurrenzkampf zwischen den Herrschaften, den Reichsstädten und den Eidgenossen, die sämtliche mit allen Mitteln, sei es durch Kauf, Erbschaft oder Raub, ihre Macht durch Gebietserwerb ausdehnen wollten. Dies brachte vier Jahrhunderte währende Wirren mit sich, die erst mit dem Frieden von Osnabrück Mitte des 17. Jahrhunderts endeten. In dieser Periode der Auseinandersetzungen standen die Emser überwiegend auf der Seite der Habsburger. Am Ende dieser Zeit waren Teile des ehemaligen Herzogtums Schwaben vom Reich abgefallen, vor allem die Eidgenossen im Südwesten und Graubünden im Süden, während sich im nördlichen Teil Schwabens zahlreiche kleinere reichsunmittelbare Herrschaften ausgebreitet hatten. Im Süden besaßen die Habsburger einen Vorposten südlich des Bodensees auf der rechten Seite des Alpenrheins, den sie jedoch mit den Emsern teilen mussten. Dieses Gebiet wurde später als Vorarlberg bekannt.
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Der Emser Erwerbsplan von 1620 |
Ein letztes Drama im Kleinen sollte sich in Vorarlberg abspielen. Die Emser, die 1620 die Grafschaft Hohenems und den Königshof Lustenau in Vorarlberg besaßen, hatten kurz zuvor (1613) auch die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellenberg (beides zusammen das heutige Liechtenstein) erworben und damit ihr Territorium auf einen Schlag verdoppelt. Im Auftrag des habsburgischen Erzherzogs von Tirol verwalteten die Emser als Vögte auch die Grafschaft Feldkirch mit der Herrschaft Neuburg. Doch mit Reichtum wächst das Streben nach Macht und Ansehen. Das Ziel der Emser war es, entlang des Alpenrheins einen zusammenhängenden Besitz zu schaffen, der groß genug war, um in den Reichsfürstenstand erhoben zu werden. Zu diesem Zweck nahm die Familie die Gelegenheit in Acht, dem geldnötigen Erzherzog von Tirol 100.000 Gulden für dessen Herrschaften Höchst, Fussau und Gaißau im Norden, Dornbirn im Osten sowie Neuburg und den am Rhein gelegenen Teil der Grafschaft Feldkirch im Süden anzubieten.
Der Erzherzog war zunächst nicht abgeneigt, musste das Angebot aber schließlich ablehnen. Die Vorarlberger Stände waren strikt dagegen, und die Habsburger wollten lieber ihren strategischen Vorposten behalten, der den Alpenrhein und damit die Wege nach Italien kontrollierte, als einen neuen souveränen Nachbarn zu riskieren, dessen Beistand sie nicht ganz trauen konnten. Hätten die Habsburger zugestimmt, gäbe es heute kein Miniatur-Liechtenstein (ehemals Schellenberg und Vaduz), eingeklemmt zwischen Österreich und der Schweiz, sondern ein viel größeres Land "Ems", das sich vom Bodensee bis zum Luciersteig im Süden erstreckte!
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Es mag vermessen erscheinen, eine tausendjährige Geschichte in einem einzigen Blogkapitel abzuwickeln. Aber ohne diesen allgemeinen Hintergrund wäre es schwierig, die Geschichte der Dynastie der Emser zu verstehen, die in der frühen nachrömischen Zeit entstand und im 18. Jahrhundert verblich. Bewaffnet mit den neu gewonnenen Erkenntnissen können wir nun zu unserem Reisebericht zurückkehren. Nur Geduld, liebe Leser, bald wird unser Nachtzug in Feldkirch (Vorarlberg) eintreffen, und dann geht es mit Schwung weiter!
Lieber Emil!
AntwortenLöschenIch wünsche Dir auch weiterhin einen schönen Schlaf sowie eine schöne Reise in der Suche nach Deinen Vorfahren mit einem späten Blick auf Maximilian.
Och besök oss gärna i denna undersköna stad med alla sina tinnar och torn samt ett och annat Caféhaus.
Isolde lässt grüßen.
HC
Hochinteressant, lieber Emil. Ich freue mich, wieder von Dir zu hören bzw. zu lesen und auf der Adressatenliste Deiner Blogs zu stehen - ich lese und sammle sie.
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Georg M. Busch (ich hoffe, Du erinnerst Dich; vormals DG ECFIN)
Natürlich erinnere ich mich an dich, Georg! Willkommen hier auf der deutschen Blogseite!
AntwortenLöschenMit freundlichen Grüßen
Emil
Als geborener Feldkircvher bin ich begeistert derartige für mich vielfach neue Einblicke in meine nähere Heimat zu erlangen. Ich warte mit Spannung auf weitere historische Details. Du solltest Dich mit meinem Volksschulfreund, dem Historiker Gerhard Wanner zusammenschließen, der jetzt im ungarischen Pecs hauptsächlich sich aufhält. Liebe Grüße aus Klosterneuburg Heinz Wimpissinger
AntwortenLöschenHallo Emil,
AntwortenLöschenvielen Dank für deine Geschichte der Emser.
Ich bewundere deine Tatkraft und das perfekte Resultat im Textinhalt und Bild.
Mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen in einer mehr friedvollen Welt.
Mit herzlichem Gruß,
Michael